Ich musste heute wieder daran denken, wie es früher immer in den Familienurlaub ging. “Früher” endet in diesem Fall erst vor ein paar Jahren.
Vielleicht kennt ihr das ja, wenn es einmal im Jahr in den obligatorischen kollektiven Urlaub geht, sei es ans Meer, in die Großstadt oder gar in den schwedischen Wald. In meinem Fall spielte sich aber vor jedem Urlaub, unabhängig vom Reiseziel, eine ganz bestimmte Szene ab, in der ich schon früh wie ein chinesischer Händler gefakter Markenklamotten feilschte – allerdings ging es nicht um Geld, sondern um Seiten.
Das Vorspiel fand meistens in der Stadtbibliothek und bei den Ständen mit den runtergesetzten Büchern beim Buchladen in der Innenstadt statt. Besonders in der Bücherei würde ich mir einen dieser alten Plastikkörber mit Metallgriff nehmen und erstmal in Ruhe die Regale inspizieren. Ich hatte zwar schon eine eigene Uhr, aber Zeit spielte eigentlich keine Rolle – ich kann mir vorstellen, dass ich eine gute Stunde zwischen den Büchern verbrachte, jedes Mal, wenn mich ein Titel oder ein Cover ansprachen, skeptisch den Klappentext durchlas und manchmal auch einen Blick auf die ersten Seiten warf, bevor es im Korb oder zurück im Regal landete. Die Kunst bestand darin, eine ausreichende Menge an gutem Lesematerial zu finden, das trotzdem noch in meinen Fahrradkorb passen würde. Gewicht spielte keine Rolle.
War ich dann mit der Beute wieder zuhause, galt es noch einmal, eine Auswahl zu treffen – aus dem “Ungelesen”-Stapel gekaufter Bücher neben dem Bett und den Neuankömmlingen musste irgendwie ausreichende, abwechslunsgreiche Urlaubslektüre zusammengestellt werden.
Die auserwählten wurden schließlich auf dem Flur gestapelt und den Eltern präsentiert. Hier gilt zu bedenken, dass ich Bücher wirklich verschlang – und das Gleiche galt für meine Schwester. Man stelle sich ihre Begeisterung beim Anblick der kleinen Büchertürme vor, die alle unbedingt ins Gepäck gehörten – sie hielt sich in Grenzen. Als unsere Lesewut zu große Ausmaße annahm, gingen sie schließlich dazu über, uns eine Seitenbegrenzung pro Tag zu setzen. Das konnte dann in etwa so ablaufen:
Eltern: “Okay, wir sind zwei Wochen weg und du kannst 300 Seiten pro Tag mitnehmen.”
Ich: “Uh, nur 300 Seiten pro Tag? Aber wenn ich mal ganz viel lese?”
Eltern (mit bedeutungsschwangerem Blick in Richtung der Büchertürme): “Na, das musst du dir dann eben einteilen. Jetzt zählen wir mal die Seiten und gucken, wie viel das hier ist.”
Unnötig zu erwähnen, dass im Laufe des Zählprozesses meinerseits gerne einmal 10 Seiten hier und 20 Seiten dort unterschlagen wurden, man wollte ja auf runde Zahlen kommen.
Ich: “Also, wenn ich das jetzt durch 14 teile, komme ich auf 350 Seiten pro Tag. Das ist doch bestimmt okay, oder?”
Eltern: “Eigentlich hatten wir ja 300 gesagt… und denk’ auch dran, dass wir den ersten und letzten Tag komplett im Auto sitzen, da kannst du ohnehin nicht lesen.” (zu meinem größten Leidwesen gehörte und gehöre ich immer noch zu den Leuten, die nicht im Auto lesen können)
Ich (200 Seiten Buch hochhaltend): “Also, ich kann das hier zuhause lassen.”
Eltern (auf den 600 Seiten Fantasy-Wälzer zeigend): “Willst du nicht lieber den hierlassen?”
Ich (entsetzt): “Aber das ist der letzte Teil der Trilogie und ich muss doch wissen, wie es ausgeht!”
Nach weiteren Verhandlungen würde ich schließlich irgendwann nachgeben, es würde ein Kompromiss gefunden werden (“Aber nur, wenn du die beiden Bücher in dein eigenes Gepäck tust!”) und in meinem eigenen Rucksack würde sich – natürlich – noch mindestens ein zusätzliches Buch finden. Den Eltern ist ja nicht zu trauen, die haben doch keine Ahnung, wie überlebenswichtig es ist, dass ich dieses Buch vor Ende des Monats lese!
Diese Mengen an Büchern, die wir jedes Mal aufs Neue mit auf Reisen schleppten, resultierten dann beim Reiseziel in einer designierten “Bücherecke”, wo zwei, drei Kisten mit dem Lesestoff der ganzen Familie standen. War ein Buch ausgelesen, gab es einen Gang zur Bücherkiste, um unter den vielen Bänden den nächsten auserwählten zu finden. Manchmal auch zwei, wenn die Entscheidung besonders schwerfiel.