Monthly Archives: May 2013

Schwerwiegendes Gepäck

Ich musste heute wieder daran denken, wie es früher immer in den Familienurlaub ging. “Früher” endet in diesem Fall erst vor ein paar Jahren.

Vielleicht kennt ihr das ja, wenn es einmal im Jahr in den obligatorischen kollektiven Urlaub geht, sei es ans Meer, in die Großstadt oder gar in den schwedischen Wald. In meinem Fall spielte sich aber vor jedem Urlaub, unabhängig vom Reiseziel, eine ganz bestimmte Szene ab, in der ich schon früh wie ein chinesischer Händler gefakter Markenklamotten feilschte – allerdings ging es nicht um Geld, sondern um Seiten.

Das Vorspiel fand meistens in der Stadtbibliothek und bei den Ständen mit den runtergesetzten Büchern beim Buchladen in der Innenstadt statt. Besonders in der Bücherei würde ich mir einen dieser alten Plastikkörber mit Metallgriff nehmen und erstmal in Ruhe die Regale inspizieren. Ich hatte zwar schon eine eigene Uhr, aber Zeit spielte eigentlich keine Rolle – ich kann mir vorstellen, dass ich eine gute Stunde zwischen den Büchern verbrachte, jedes Mal, wenn mich ein Titel oder ein Cover ansprachen, skeptisch den Klappentext durchlas und manchmal auch einen Blick auf die ersten Seiten warf, bevor es im Korb oder zurück im Regal landete. Die Kunst bestand darin, eine ausreichende Menge an gutem Lesematerial zu finden, das trotzdem noch in meinen Fahrradkorb passen würde. Gewicht spielte keine Rolle.

War ich dann mit der Beute wieder zuhause, galt es noch einmal, eine Auswahl zu treffen – aus dem “Ungelesen”-Stapel gekaufter Bücher neben dem Bett und den Neuankömmlingen musste  irgendwie ausreichende, abwechslunsgreiche Urlaubslektüre zusammengestellt werden.

Die auserwählten wurden schließlich auf dem Flur gestapelt und den Eltern präsentiert. Hier gilt zu bedenken, dass ich Bücher wirklich verschlang – und das Gleiche galt für meine Schwester. Man stelle sich ihre Begeisterung beim Anblick der kleinen Büchertürme vor, die alle unbedingt ins Gepäck gehörten – sie hielt sich in Grenzen. Als unsere Lesewut zu große Ausmaße annahm, gingen sie schließlich dazu über, uns eine Seitenbegrenzung pro Tag zu setzen. Das konnte dann in etwa so ablaufen:

Eltern: “Okay, wir sind zwei Wochen weg und du kannst 300 Seiten pro Tag mitnehmen.”

Ich: “Uh, nur 300 Seiten pro Tag? Aber wenn ich mal ganz viel lese?”

Eltern (mit bedeutungsschwangerem Blick in Richtung der Büchertürme): “Na, das musst du dir dann eben einteilen. Jetzt zählen wir mal die Seiten und gucken, wie viel das hier ist.”

Unnötig zu erwähnen, dass im Laufe des Zählprozesses meinerseits gerne einmal 10 Seiten hier und 20 Seiten dort unterschlagen wurden, man wollte ja auf runde Zahlen kommen.

Ich: “Also, wenn ich das jetzt durch 14 teile, komme ich auf 350 Seiten pro Tag. Das ist doch bestimmt okay, oder?”

Eltern: “Eigentlich hatten wir ja 300 gesagt… und denk’ auch dran, dass wir den ersten und letzten Tag komplett im Auto sitzen, da kannst du ohnehin nicht lesen.” (zu meinem größten Leidwesen gehörte und gehöre ich immer noch zu den Leuten, die nicht im Auto lesen können)

Ich (200 Seiten Buch hochhaltend): “Also, ich kann das hier zuhause lassen.”

Eltern (auf den 600 Seiten Fantasy-Wälzer zeigend): “Willst du nicht lieber den hierlassen?”

Ich (entsetzt): “Aber das ist der letzte Teil der Trilogie und ich muss doch wissen, wie es ausgeht!”

Nach weiteren Verhandlungen würde ich schließlich irgendwann nachgeben, es würde ein Kompromiss gefunden werden (“Aber nur, wenn du die beiden Bücher in dein eigenes Gepäck tust!”) und in meinem eigenen Rucksack würde sich – natürlich – noch mindestens ein zusätzliches Buch finden. Den Eltern ist ja nicht zu trauen, die haben doch keine Ahnung, wie überlebenswichtig es ist, dass ich dieses Buch vor Ende des Monats lese!

Diese Mengen an Büchern, die wir jedes Mal aufs Neue mit auf Reisen schleppten, resultierten dann beim Reiseziel in einer designierten “Bücherecke”, wo zwei, drei Kisten mit dem Lesestoff der ganzen Familie standen. War ein Buch ausgelesen, gab es einen Gang zur Bücherkiste, um unter den vielen Bänden den nächsten auserwählten zu finden. Manchmal auch zwei, wenn die Entscheidung besonders schwerfiel.

A thousand miles seems pretty far

…but they’ve got trains and planes and cars.

In meinem Leben gibt es wenige klare Linien. Alles fließt irgendwie. Aber eines der wenigen Dinge, die fix sind, ist die Trennung zwischen hier und dort.

Hier, das ist mein Leben in Frankreich an der Uni, mit Menschen, die Englisch, Französisch, Schwedisch, Chinesisch, Slowakisch, Japanisch und Koreanisch sprechen. Wo die Boulangerie Croissants, Baguette und Brioche verkauft und ich immer Wein zuhause habe. Wo die Verkäufer auf dem Markt aus Marokko kommen und mir jeden Samstag im Austausch für ein paar Worte Deutsch Bruchstücke ihres arabischen Dialekts beibringen. Wo Paris (mit Glück) nur zwei Stunden mit dem Zug und das Meer 10 Minuten mit der Tram entfernt ist. Wo ich eine eigene Wohnung und nette Nachbarn habe. Wo ich für die Herbst- und Sommerferien mit Freunden Reispläne für London, Marokko und die Türkei schmiede.

Dort, das ist mein Leben in Deutschland, das in den Zeiträumen “dazwischen” stattfindet – Winter- und Sommerferien. Wo die Menschen Deutsch sprechen und ich jedes Wort verstehe, wo die Bäckereien dunkles Brot und die Teeläden unzählige Sorten Rotbuschtee verkaufen. Wo ich ein Zimmer in einem Haus habe, das ich mir mit meiner Familie teile, mit der ich meinen Tagesrhtythmus abstimmen und vor der ich mich auch rechtfertigen muss, wo ich nicht einfach bis vier Uhr wegbleiben und dann zu Fuß nach Hause gehen kann. Wo ich mehr vagabundiere, weil ich das Gefühl habe, dass die Zeit knapp ist – so wenige Tage und so viele wunderbare Menschen, die ich viel zu lange nicht gesehen habe, die aber alle geographisch so weit voneinander entfernt leben, obwohl sie in meinem Leben alle zusammen einen ganz wichtigen Platz einnehmen.

Wenn es nur nach mir ginge, wäre diese Trennung nicht so absolut. Es wäre schöner, wenn meine Lieblingsmenschen aus Frankreich auch in Deutschland und meine Lieblingsmenschen aus Deutschland auch in Frankreich sein könnten. Leider sind oft viele hundert Kilometer und teure Flug-/Zugtickets im Weg.

Aber dann tauchen Leute aus meinem Leben hier in Berlin auf. Und Leute aus meinem Leben dort sind auf einmal mit mir am Strand in Frankreich. Und manchmal wandere ich selber von einem Leben ins andere.

Das freut mich dann umso mehr – und es hat immer etwas Magisches, wenn die Grenzen zwischen meinen Welten überschritten werden.

Nicht ganz ohne Zusammenhang: Wenn ich mal in der Küche singen und tanzen möchte oder mir einfach nach Musik ist, findet sich immer wieder dieses Lied auf meinen Lippen wieder.

Let’s meet again somewhere

„I’ll keep it in mind“

„Allright then“, Tamaru said, „let’s meet again somewhere.“

„Again somewhere“, Aomame repeated by reflex.

Ich lese gerade habe gerade Haruki Murakami’s „1Q84“ gelesen. Er ist ja bekannt für seine schrägen Geschichten und obskuren Schlenker mit merkwürdigen Protagonisten. Und dass er nicht davor scheut, einen Frosch in einer kleinen Tokyoter Junggesellenwohnung auftreten zu lassen.

Bei der ersten Begegnung mit Murakami hatte ich im Universum von „Mister Aufziehvogel“. Ich zog es als Gymnasisastin aus dem muffigen Regal in unserer kleinen Stadtbücherei, vor allem angezogen von dem japanischen Namen (ich ging gerade durch meine Mangaphase). Eigentlich war das Buch eher abschreckend und in meiner Erinnerung auch immer noch das Abstruseste, was ich von ihm gelesen habe. Gute 800 Seiten verwirrende Merkwürdigkeiten. Aber irgendetwas an seinem Schreibstil hat mich doch berührt – und so habe ich Jahre später bei einem der Straßenbuchhändler in Shanghai ohne zu zögern nach „Norwegian Wood“ gegriffen. Und es geliebt.

Normalerweise lese ich keine Liebsromane. Nur diesen einen, der eigentlich keiner ist. „Norwegian Wood“ ist zwar Liebe und etwas Tragik (so sülzig das jetzt auch klingen mag), es ist aber auch so viel Mysterium dabei, das man das leicht vergisst. Es ist, als ob die Liebesgeschichte in das Geheimnisvolle und Absurde hineingewoben wird, um etwas ganz Neues zu ergeben. Die Welt, die Murakami beschreibt, ist keineswegs abwegig. Vielleicht ist das ja die Welt, die andere Menschen sehen, wenn sie morgens aufwachen, das sind die Leuten, denen sie begegnen, das sind die Konversationen, die sie führen.

Ein gutes Jahr später bin ich dann während meiner Herbstferien von der Uni in einem kleinen Londoner Second Hand-Buchladen nahe am Wasser auf die Kurzgeschichtensammlung „After the quake“ gestoßen, las es, dachte mir „Okay.“ „Norwegian Wood“ wirkte immer noch nach und irgendwie war dies nicht ganz, was ich mir erhofft hatte.

Nochmal einige Monate später stolperte ich über eine ebook-Version von Murakami’s neuestem Buch „1Q84“, das vor allem mit seinem merkwürdigen Titel zunächst für Aufmerksamkeit gesorgt hatte (der übrigens im Japanischen ein mehr oder minder cleveres Wortspiel ist). Ich lud es auf meinen Kindle und als ich in den Frühlingsferien müde und zerschlagen im Flugzeug zwischen Istanbul und Zürich saß und Schweizer Schokolade aß, bekam ich plötzlich wieder Lust auf eine etwas geheimnisvolle, ein bisschen absurde und vielleicht sogar berührende Geschichte.

Irgendwie liegt „1Q84“ irgendwo zwischen dem Aufziehvogel und der Liebsgeschichte von „Norwegian Wood“ – es hat seine Obskuritäten, es hat aber auch liebevoll beschriebene Charaktere. Wieder einmal sind sie in eine etwas kitschige Liebesgeschichte verwickelt, aber dafür gibt es da das Mädchen, das ohne Satzzeichen spricht, und die kleinen Menschen, die Magie aus der Luft holen, um mit ihr zu weben. Und immer wieder diese Momente, bei denen ich nur denke „Hach!“, Stellen, wo die Worte zu so berührenden Passagen aneinandergereiht sind, die mich einen ganzen Tag nicht in Ruhe lassen. Wie die ganz am Anfang des Textes.

Vielleicht liegt es daran, dass Murakami’s Charaktere nicht viel reden. Sie denken dafür umso mehr. Ich habe mal gehört, man sagt dann schlauere und tiefergehenden Dinge, wenn man sich vorher die Mühe macht, drüber nachzudenken. Vielleicht ist ja tatsächlich was dran.

Am Ende ist “1Q84” ein wundervolles Buch, das auf tausend Seiten in eine Welt entführt, die der unseren ähnelt, aber wie “Norwegian Wood” ein Stück fantastischer ist. Die Menschen in dieser Welt handeln, aber sie denken mehr, nehmen die Welt intensiv wahr und denken dann noch etwas. Inmitten all dieser halb- und zu Ende gedachten Gedanken passieren auch Dinge, Menschen treffen, verlieren und verpassen einander, sie driften oder schwimmen entschlossen durch die Geschichte. Murakamis Erzählung ist eine Art Schwebezustand, in dem jederzeit alles passieren kann. Das Einzige, worauf man sich bei ihm verlassen kann, ist, dass am Ende alle Fäden lose und alle Fragen offen bleiben.

Eine Woche, nachdem ich die letzten Seiten von “1Q84” gelesen habe, sehe ich auf Facebook, dass eine Kommilitonin von mir eine von Murakamis Kurzgeschichtensammlungen verkauft – “The Elephant vanishes”.

Let’s meet again somewhere. Be it in Europe or in Asia, in paper or in e-ink, in a bed or aboard a train.

Get into Character (We’re going live)

Das Allererste, was ich über dieses Blog wusste, war, dass ich auf Deutsch schreiben wollte. Irgendwie ist meine Muttersprache schleichend einfach aus meinem Alltag verschwunden – mit meinen Freunden und Lehrern rede ich Englisch (manchmal Französisch), wenn ich Hausarbeiten oder Klausuren schreibe, passiert das auf Englisch, wenn ich einkaufen gehe, tue ich das auf Französisch (oder auf Chinesisch, wenn mich der Mangel an asiatischen Zutaten und Gewürzen mal wieder in den Asialaden treibt). Selbst mit meinem deutschen Nachbar spreche ich meist Englisch –  irgendwer ist immer im Raum, der kein Deutsch versteht.

Deutsch findet nur noch auf Facebook, im ICQ-Chat und über Skype statt, in den kleinen Momenten, in denen ich Kontakt zu den Menschen in Deutschland zu halte, die mir immer noch wichtig sind, weil sie dort ein Teil meines Lebens waren. Manchmal klappt das, manchmal nicht. Manche Freundschaften sind anscheinend nicht für die Ewigkeit oder für konstanten Kontakt gemacht (das nimmt ihnen aber nichts von ihrem Zauber, während sie noch Teil meines Lebens sind).

Bücher lese ich auch nicht mehr auf Deutsch. Es gibt gerade wenig deutsche Literatur, die mich gerade reizt – so traurig das auch ist. Ich versuche schon seit Langem, Bücher wenn möglich nur noch im Original zu lesen. Und auch, wenn meine Sprachkenntnisse bei weitem nicht ausreicht, um Murakami’s “1Q84” auf Japanisch zu lesen, traue ich der englischen Übersetzung doch intuitiv mehr als der deutschen. Begründen kann ich das nicht, ich sollte mal den Vergleich anstellen, und mir auch die deutsche Version antun. Ich frage mich ja, ob es den Deutschen auch gelingt, diese spezielle Atmosphäre, dieses… Gefühl rüberzubringen, das seine Bücher für mich ausmacht. Letztendlich hat jede Sprache ihren eigenen Ton und ich bin mir nicht sicher, ob der deutsche zu Murakamis Geschichten passt. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob der englische passt.

Note to self: Japanisch verbessern und herausfinden.

Im Internet lese ich allerdings noch auf Deutsch, Zeitungen und Blogs. Ganz ehrlich, liebe deutsche Zeitungen, wenn ihr euch eine Paywall zulegt, lese ich nur noch Blogs. Dann seid ihr selber schuld. Was soll man denn da als Student machen? Studentenpreise für Abos sind ja schön und gut, merkt man aber auch nichts mehr von, wenn man im Ausland lebt. Duh.

Gut, nach dieser kurzen Analyse muss ich meine anfängliche Aussage revidieren: Deutsch findet in meinem Alltag schon noch statt, aber nur in Nischen – nur im Internet.

Warum genau ich wieder auf Deutsch schreiben wollte, kann ich auch nicht erklären. Wenn ich etwas sagen möchte, kommen mir mittlerweile zuerst die englischen Worte in den Kopf und oft, wenn ich Deutsch rede, suche ich nach einem Wort, das wir nicht haben, und muss dann auf eine umständliche Umschreibung eines Konzeptes zurückgreifen, das man doch im Englischen so schön einfach ausdrücken könnte. Natürlich hat das Deutsche auch Worte, deren Bedeutung im Englischen nicht mit einem Wort wiedergegeben werden können – aber diese Lücken fallen mir nicht so oft auf. Wenn überhaupt. Dabei kann man mit der deutsche Sprache doch eigentlich so viele schöne Dinge ausdrücken!

Dazu kommen kleine Dinge. Wie die Tatsache, dass ich mich seit Jahren schon nicht mehr an meine Träume erinnere. Und als es dann vor einigen Tagen das erste Mal wieder passierte, hatte ich definitiv auf Englisch geträumt. Oder dass ich gestern mehrere lange Augenblicke darüber nachdenken musste, ob es jetzt “Malaysia” oder vielleicht doch “Malaysien” heißt (laut Wikipedia geht übrigens beides, also lag ich gar nicht wirklich falsch.)

Was am Ende bleibt: Ich sitze in Frankreich und schreibe nach zwölf auf Deutsch ins Internet. Mal schauen, wie lange ich durchhalte.